Anmerkungen der Künstlerin zur Ausstellung „Sewol Pietà – Heimkehr“
Von Kwang Lee, Berlin, 2024, übersetzt von Philipp Haas
Ästhetik der Begegnung und des Abschieds, offenbart in der koreanischen Volkssage Ojakgyo
Zu den bekanntesten Volkssagen Koreas zählt die Geschichte von Ojakgyo, die Sage vom Kuhhirten und der Weberin, deren Ursprünge vermutlich vor das 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung zurückreichen. Diese Geschichte, die sich zwischen den Protagonisten Gyeonu und Jiknyeo entspinnt, ist auch in einem Wandgemälde des historischen Goguryeo-Reiches, das in der Ortschaft Deokheung-ri in der heutigen nordkoreanischen Provinz Süd-Pyongan zu sehen ist, dargestellt. Hintergrund der Geschichte ist ein astronomisches Phänomen, bei dem sich jedes Jahr am sogenannten Chilseok-Tag, dem siebten Tag des siebten Mondmonats, zwei Sterne im Zentrum der Milchstraße sehr nahe kommen. Der Kuhhirte Gyeonu – ihm entspricht der Stern Altair im Sternbild Aquila – und die Weberin Jiknyeo – ihr entspricht der Stern Wega im Sternbild Lyra – sind unsterblich ineinander verliebt. Das Liebespaar zieht den Zorn des Jadekaisers, eines himmlischen Gottes, auf sich und wird deshalb über die Weite der Milchstraße hinweg getrennt. Die schöne Geschichte, dass die Krähen, die Mitleid mit den Liebenden empfinden, einmal im Jahr eine Brücke bilden – Ojakgyo bedeutet wörtlich übersetzt „Krähenbrücke“ – und es Gyeonu und Jiknyeo ermöglichen, einander zu treffen, bildet den Hintergrund der Ausstellung „Sewol Pietà – Heimkehr“.
Meine Arbeit an der Ojakgyo-Sage, der Geschichte von der „Krähenbrücke“, geht auf den Winter des Jahres 2011 zurück. Zu dieser Zeit lebte ich auf der Insel Sylt im Nordwesten Deutschlands. Ich vertiefte mich ganz in ein schlichtes Leben, fuhr morgens mit dem Fahrrad an die Ostküste der Insel, um den Sonnenaufgang zu beobachten, und nachmittags an die Westküste nahe Westerland, um dort den Sonnenuntergang über dem Meer zu beobachten und anschließend in mein Atelier zurückzukehren. Beim Betrachten des Meeres verliebte ich mich in die Beobachtung der Vögel, die auf dem zugefrorenen Wintermeer leben – eine Beschäftigung, die mir großen Spaß machte. Doch der Anblick der Vogelschwärme, die in weiten Kurven über das Meer flogen, löste in mir auch seltsame Gefühle aus: Gefühle des Bedauerns, der Sehnsucht nach etwas Unerreichbarem, als würde mich etwas von jenseits des Meeres rufen. Er löste eine Traurigkeit in mir aus, die sich nicht in Worte fassen lässt. Ich verspürte den Wunsch, mich, auf den Vogelschwärmen reitend, irgendwohin „fortbringen“ zu lassen. Zu dieser Zeit schien der Vogelschwarm die „Krähenbrücke“ der Ojakgyo-Sage zu repräsentieren. Der Vogelschwarm, der in einem riesigen Gruppentanz Himmel und Erde verband, brachte mich irgendwohin und durchbrach in meinem Kopf die Grenze zwischen „Realität“ und „Unwirklichem“, zwischen „Trennung“ und „Begegnung“. Als ich ins Atelier zurückkehrte, begann ich mit dem Zeichnen meiner „Ojakgyo“ (dt. “Krähenbrücke“), eines Vogelschwarms, der wie die Krähen über die Milchstraße über das schwarze Nachtmeer floss.
Wohin führt das Ende der Ojakgyo-Brücke?
In ein Zuhause, in eine Familie, in die Arme eines geliebten Menschen, zu jemandem, der meine Existenz so erkennt, wie ich wirklich bin, an einen bequemen Ort zum Ausruhen, an einen Ort, auf den sich mein Herz verlassen kann, wer ist dieses Wesen, warm wie Sonnenlicht, das am Ende der Brücke wartete? Unbekannt? Warum wollen wir heimkehren?
Meine Ojakgyo-Brücke, die zwischen Lebenden und Toten vermittelt
Am 16. April 2014 sank vor der Küste der Insel Jindo im Ostchinesischen Meer die Sewol-Fähre, ein Passagierschiff, das hauptsächlich Oberstufenschüler befördert hatte. Dieser katastrophale Unfall erschütterte die gesamte Republik Korea tief. Zehn Jahre sind seither vergangen, doch der Schmerz und der Schock von damals sind nicht verheilt. Von den insgesamt 304 Opfern waren 250 Schüler. Wie können wir den Schmerz von Eltern erfassen, die über Nacht ihre Kinder verlieren? Alle teilten damals den Schmerz derjenigen, die den Verlust eines Kindes zu beklagen hatten, das ganze Land durchlebte eine Zeit tiefer Trauer. Bei der Untersuchung der Umstände und Hintergründe des Vorfalls trat eine hässliche Wahrheit zutage: Die Ursachen für den Untergang der Sewol-Fähre waren menschliche Gier und Selbstsucht. Man kann sagen, dass der Vorfall, der die Übel der modernen kapitalistischen Gesellschaft offenbarte, ein Feuer der Reinigung in den Herzen des koreanischen Volkes entfachte. Der Vorfall fungierte als Katalysator für den Rücktritt einer Präsidentin, die sich auf inkompetente und korrupte Kräfte stützte, und führte zu Maßnahmen zur Bekämpfung einer maßlos grassierenden Korruption und anderer Fehlentwicklungen in der koreanischen Gesellschaft, die ihre Ursache im alle Lebensbereiche unserer Zivilisation beherrschenden Materialismus haben. Diese Bewegung ist als sogenannte „Kerzenlichtrevolution“ in die Geschichte eingegangen: Eine friedliche Protestbewegung, in der die dynamische Kraft des Volkes als Subjekt des Staates manifest wurde.
Ich glaube, dass die Katastrophe der Sewol-Fähre eine wichtige Botschaft an die moderne Gesellschaft von heute aussendet. Es handelt sich um eine einem Impfstoff vergleichbare Kraft, die zur Überwindung von Nebenwirkungen beiträgt, die durch die Kluft zwischen materieller und spiritueller Zivilisation entstanden sind. Mit meinen Kunstwerken möchte ich den sozial Benachteiligten Vitalität verleihen, die ihnen die Überwindung von Schmerz und Traurigkeit ermöglicht. Ich möchte Sinn stiften, der die Opfer zu sinnvollen Opfern macht, die zur Reinigung und zum Überleben eines Bewusstseins von Menschlichkeit beitragen, sodass ihre Leben nicht als sinnnlos geopferte Leben in den Tiefen der Geschichte verschwinden.
In diesem Zusammenhang verleihe ich im Werk „Schwarze Pietà“ der Trauer von Eltern, die ihre Kinder verloren haben, Ausdruck.
Meine „Sewol Ojakgyo“ (dt. „Sewol-Krähenbrücke“) ist eine Brücke, die die unschuldig gestorbenen Kinder mit ihren Hinterbliebenenfamilien, die von der Trennung bis zur Wiedervereinigung unter Schmerzen leben, verbindet. In ihr waltet eine transzendente Liebe, durch die sich in der spirituellen Welt begegnen kann, was in der materiellen Welt getrennt ist.
Kunst und Religion existieren in mysteriösen Bereichen, die mit westlichem wissenschaftlichem und rationalem Denken schwer zu erfassen sind. In der koreanischen Volksreligion leiten professionelle Schamanen und Schamaninnen – es sind überwiegend Frauen – das Ritual der „Besessenheit“, in welchem unterstützt durch traditionelle Musik, Tanz und Ahnenriten eine Verbindung zwischen Lebenden und Toten hergestellt und Toten wie Lebenden geholfen wird, ihren Groll zu überwinden und eine Trennung zu vollziehen. Ist der Geist des Verstorbenen in den Körper der Schamanin eingedrungen, wird ein Ahnenritual durchgeführt und der Geist in den Himmel geschickt. Das erst ermöglicht ein Abschiednehmen von der Familie. Dieses Ritual wird cheondoje genannt. Auch die rituelle „Besessenheit“, bei der Schamanen und Schamaninnen ihren Körper anderen „leihen“, ist ein Opfer auf sehr hohem Niveau.
In Korea gelten die religiösen Rituale der Schamanen, namentlich der sogenannte gut, der die reale Welt und die Geisterwelt verbindet, als immaterielles Kulturgut und werden weitergegeben und geschützt.
Das Werk „Sewol Ojakgyo“ ist ein Ritual, in dem ich als Künstlerin den Seelen der Opfer der Sewol-Fähre Trost zu spenden suche.
Die schamanistische Performance des koreanischen Video-Künstlers Nam June Paik (1932-2006), die an koreanische Kunsttraditionen anknüpft, ist ein gutes Beispiel für postmoderne Kunst, die versucht, die Übel der auf dichotomem Denken und Rationalismus basierenden westlichen Zivilisation zu heilen.
Im Symbol der Krähe dargestellte Verehrung des Himmels und Geist des Hongik Ingan,
Der Sonnen- und Mondkult ist die älteste der Menschheit bekannte Religion und Spuren davon sind auf der ganzen Welt zu finden. Derzeit, im Jahr 2024, verzeichnet die koreanische Geschichtsschreibung, die die kurze Zeitspanne von 4357 Jahren umfasst, den Halbgott Dangun, der im Jahr 2333 v. Chr. das erste der koreanischen Königreiche, Gojoseon, gründete, als den Ursprung der Landesgeschichte. Der Geist des von Dangun begründeten Konzepts Hongik Ingan, der seither als Gründungs- und Regierungsideologie dient, gewährt allen Menschen eine menschliche Behandlung und gleiche Rechte.
In Gojoseon wurde die Sonne verehrt. Die Krähe, die die Sonne symbolisiert, ist ein Symbol sowohl für Gojoseon als auch für Goguryeo und nimmt auf den Dangun-Mythos Bezug, der besagt, dass das koreanische Volk vom Himmel stammt und die Koreaner somit Nachkommen himmlischer Götter sind. Vielleicht taucht deshalb in den Wandgemälden des Goguryeo-Reiches häufig das Bild einer Krähe im Zentrum der Sonne auf, und ebenso häufig spielen Krähen in Geschichten und Mythen eine Rolle. Anhand von Relikten und Reliquien lässt sich zeigen, dass Vögel für die tiefe Verbindung zwischen Sonnenanbetung und Schamanismus stehen. Die frei zwischen den Sphären von Himmel und Erde hin-und herreisenden Vögel wurden als Vermittler gesehen und bewundert. Die flügelartige Kleidung und die Kopffedern, die von Schamanen und Anführern, die beide immer auch die Rolle von Medien spielten, denen es zukam die Worte Gottes zu übermitteln und zur Reinigung und Heilung der Seele beizutragen, getragen wurden, sind Ausdruck dieser Bewunderung.
Die Dimension der Menschlichkeit kommt in der Ojakgyo-Sage nicht nur darin zum Ausdruck, dass den Liebenden eine Möglichkeit des Treffens geschaffen wird, sondern auch in der Opferbereitschaft der Krähen.
Die Erzählung besagt, dass die Krähen, wenn sie hoch in den Himmel hinauffliegen, um Vogelkörper an Vogelkörper die Krähenbrücke zu bilden, über die die Liebenden aufeinander zuschreiten, Opferbereitschaft zeigen – die weißen Stellen am Kopf der Vögel rühren von Wunden her, die sie als „Brückenbausteine“ davontragen. Dass die Tränen, die Gyeonu und Jiknyeo vergießen, wann immer sie einander treffen und wieder voneinander Abschied nehmen, sich in Regen verwandeln, symbolisiert die Fürsorge, mit der sich die Mächte des Himmels um die sogenannten baekin, die Landbevölkerung im alten Korea, kümmern, indem sie den unter der hochsommerlichen Dürre leidenden Bauern die Kostbarkeit des Regens schicken. Auch mein „Samjogo“ (dt. „Dreibeinige Krähe“) betiteltes Werk trägt diesen Geist des Hongik-Ingan weiter.
Warum sind es heute K-Pop, K-Culture und K-Art?
Als ich 1999 mein Auslandsstudium in Düsseldorf antrat, wurde ich immer wieder von Menschen in meinem Umfeld gefragt, was ich in Deutschland denn lernen wollte. Ich sprach damals recht vage von „westlicher Kunst“, eine Antwort, die eigentlich meinen Stolz verletzte. Denn ich wusste nicht genug über die Kultur des Westens, um zu sagen, dass ich westliche Kunst studieren wollte, weil diese Kultur des Westens so herausragend und großartig wäre. Vielmehr hatte ich das Gefühl, dass ich gekommen war, weil die koreanische Kultur „minderwertig“ sei und ich etwas über die „fortschrittliche“ Zivilisation des Westens lernen wollte.
Seit 25 Jahren studiere ich nun in Deutschland, erlebe den Austausch östlicher und westlicher Kulturen sozusagen am eigenen Leib und widme mein Leben der Erforschung der koreanischen Identität.
Da es ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der koreanischen Gesellschaft zu einer wahl- und maßlosen Übernahme westlicher Kultur und christlichen Geistes kam, bedurfte es für mich als Koreanerin umfangreicher Studien, um das Gefühl der Minderwertigkeit zu überwinden, um die Einzigartigkeit genuin koreanischer Kultur zu identifizieren, und etwas zu finden, das als Essenz und Exzellenz koreanischer Kultur bezeichnet werden kann.
Die Unterschiede zwischen westlicher und östlicher Kultur zu erforschen bereitete mir paradoxerweise viel Freude. Auf diesem Weg meiner Identitätsfindung als Koreanerin gelangte ich zur Überzeugung, dass Korea ein Land mit einer langen Geschichte und einem immensen Reichtum an Kultur ist.
Durch den Orientalismus, mit dem ich im Zuge dieser Beschäftigung in Berührung kam, kam ich zu der Erkenntnis, dass, wer die Traditionen der westlichen und der koreanischen Kunst verbinden will, den Geist eines Koreaners haben muss und nicht die Standards eines Westlers.
Als Beispiel für dieses Prinzip mag das traditionell koreanische Konzept des Hongik Ingan dienen. Seit fast fünf Jahrtausenden ist Koreas Geist der Gleichheit und Brüderlichkeit in Form der Volksreligion des koreanischen Schamanismus weit verbreitet, und seit dieser Zeit wurden Buddhismus, Taoismus, Konfuzianismus und sogar das Christentum angenommen und sind in Korea heimisch geworden, mit einer Großzügigkeit und in einem kosmischem Ausmaß, das die materielle und die spirituelle Welt umfasst.
Heute, in Zeiten der Popularität der Korean Wave, also des K-Pop und der K-Culture, sind die Werte der Brüderlichkeit und Gleichheit, die seit den Zeiten des Gojoseon-Reiches sorgfältig gepflegt werden, im sogenannten sinmyeong (dt. „Spaß, Begeisterung“) verschmolzen, also in der ekstatischen Begeisterung, die Musiker bzw. Performer beim gemeinsamen Spiel erfasst und die sich auf das Publikum überträgt, wenn der mit der Gottheit kommunizierende Mittler in seiner Ekstase den Schmerz des Anderen mitfühlt und kommuniziert. Die Kraft, Vergebung und Versöhnung entstehen zu lassen und die Probleme einer kollektiv verhärteten Gesellschaft durch ekstatisches Tanzen und Singen zu lösen; die Kraft, Probleme durch Lachen, mit Humor statt mit Hass zu lösen; die Kraft, die durch die Kommunikation des Menschen mit der Natur freigesetzt wird, all das ist gemeint, wenn im Koreanischen von pungnyu oder sinmyeong die Rede ist, wobei pungnyu (dt. wörtl. „Fluss des Windes“) als bildlicher Ausdruck für „erlesenen Kunstgeschmack“ eine von Generation zu Generation tradierte Exzellent bezeichnet, in der sich Temperament und ästhetisches Feingefühl der Koreaner zeigen.
Wissenschaft und Technologie bieten uns, die wir im 21. Jahrhundert in einer materialistisch geprägten Zivilisation leben, viele Annehmlichkeiten. In Wirklichkeit müssen wir jedoch versuchen, zusammenzuleben, um uns als Menschheit inmitten aller Arten von bedrohlichen Krisen – Umweltzerstörung, Energieverknappung, Kriege, epidemische Krankheiten, usw. – ein Überleben zu sichern. Am Ende müssen wir einen Schritt heraus aus Selbstsucht und Gier, hin in Richtung einer freien und neuen, geistzentrierten Weltanschauung machen. Als Künstlerin ist es mein Ziel – im Sinne einer postmodernistischen Alternative – durch eine moderne Adaption der performativen Werte traditioneller koreanischer Kunst, östlicher Philosophie und Religion, sowie des Konzepts des Hongik Ingan, das im indigenen Glauben und im koreanischen Schamanismus verankert ist, die Probleme des modernen Menschen zu lösen, der in der Trägheit des Materialismus gefangen ist.
Traditionelle koreanische Kunst – Bezugnahme auf die Wandgemälde der Goguryeo-Grabstätten
Bei den Wandgemälden der Goguryeo-Grabstätten handelt es sich um Wandmalereien aus dem 3. bis 7. Jahrhundert, konkret um eine Sammlung von etwa 100 Wandgemälden in Grabstätten, die im heutigen Nordkorea und in einigen angrenzenden Gebieten Chinas, die damals ebenfalls Teil des Territoriums des Königreichs Goguryeo waren, ausgegraben wurden. Die von der UNESCO als Weltkulturerbe gelisteten Grabstätten geben Einblick in die Epoche ihrer Entstehung und die religiösen Vorstellungen der damaligen Koreaner.
Die aus dem Taoismus übernommenen „Vier Götter“ sind Schutzgottheiten, die die vier Himmelsrichtungen beschützen: die „Schwarze Schildkröte des Nordens“ (kor. Hyeonmu), der „Blaue Drache des Ostens“ (kor. Cheongnyong), der „Rote Vogel des Südens“ (kor. Jujak) und der „Weiße Tiger des Westens“ (kor. Baekho). Werke, die Tiere als Götter darstellen, erleichtern das Verständnis von religiösen Vorstellungen und veranschaulichen den Animismus der Menschen der damaligen Zeit, der besagt, dass Götter in allen Dingen seien. Darüber hinaus wird durch die Darstellung von halb menschlichen, halb tierischen Wesen als Gottheiten die Kommunikation zwischen Mensch und Natur verstärkt.
Darin unterscheidet sich die östliche Perspektive von der westlichen, die die Natur als einen Gegenstand menschlicher Eroberungs- und Herrschaftsansprüche betrachtet. Dem Osten galt die Natur als heiliges Objekt der Verehrung. Ich hoffe, dass dieser Unterschied im 21. Jahrhundert, in dem die Umweltzerstörung das Überleben der Menschheit bedroht, als Denkanstoß genutzt wird.
Die Wandgemälde der Goguryeo-Grabstätten eröffnen einen Blick auf das Weiterleben der unsterblichen Seele, die die himmlische Sphäre mit der irdischen verbindet, über den Tod hinaus und zeigen eine zyklische Sicht auf die Reinkarnation, die eine Überwindung der Schmerzen der Realität erlaubt. In einem spielerischen Ineinander von Spannung und Stil drückt die Vitalität des rhythmisch-dynamischen Linienspiels kosmische Kraft aus. Im mikroskopischen wie im makroskopischen Rhythmus sind Götter, Menschen, Himmel und Erde durch unsichtbare Kräfte miteinander verflochten, vergleichbar dem aufregenden Anblick der wie tanzend wachsenden Blütenbüschel.
Meine Maltechnik: Von der stillen Oberfläche zum ekstatischen „Tanz der Linien“
Meine Maltechnik besteht aus tanzenden Linien, die aus einem Zustand des shinmyeong, also der ekstatischen Erregung und Begeisterung entstehen.
Östliche und westliche Malmethoden unterscheiden sich im Allgemeinen vor allem durch die verwendeten Materialien. Im Westen wurden Ölgemälde gemalt, im Osten Tusche- und Aquarellbilder. Von ihrer Materialität her sind Ölgemälde robuster und kräftiger als Aquarelle.
Ich tat mich schwer mit dieser robusten Materialität und bestimmten Bildeigenschaften, die sie hervorbringt, und erkannte, dass sich die westliche Malerei durch die Verwendung von Baumwolle als Malgrund grundlegend verändert hatte. Das Element der Fläche war für die Darstellung von Perspektive, Licht und Schatten immer wichtiger geworden, während in der orientalischen Malerei der Schwerpunkt auf der Linie lag. Als ich diesen Unterschied erkannte und mir bewusst wurde, dass das Element der Linie immateriell und dadurch geeignet ist, für das Auge nicht wahrnehmbare Spiritualität, Kraft oder Bewegung auszudrücken, entdeckte ich die „Linie des sinmyeong“ (kor. sinmyeong-ui seon), also die „Linie des Ekstatischen“. Je aktiver die Linienelemente sind, desto unrealistischer kann das Bild sein und desto weiter kann es über konkrete Bildelemente der materiellen Welt hinausgehen. Ich glaube, dass das Element der Linie geeignet ist, den Überlagerungszustand, von dem in der modernen Physik, namentlich in der Quantenphysik behauptet wird, er sei existent, aber leer, durch Malerei auszudrücken. Es eignet sich als eine Praxis, die schweren und soliden Aspekte loszulassen und sich mit dem leichtfüßigen, sanften Sprung der Linie freizuspielen, die Bindung an die materielle Welt aufzugeben und die Tür zur Welt des Sprituellen aufzustoßen.
Wer die Leere der materiellen Welt erkennt, kann sich vom Schmerz der Realität befreien
Das ultimative Ziel meiner Kunst ist es, zur Heilung leidender Seelen beizutragen. Deshalb interessiere ich mich sehr für sozial benachteiligte Gruppen: Arbeiter, einfaches Volk, marginalisierte Klassen, Ausgebeutete und Unterdrückte, Arme, Schwarze Menschen. Dass sich diese Botschaft nicht von den Botschaften Jesu, Buddhas und anderer Heiliger unterscheidet, ist mir bewusst. In den modernen Gesellschaften sind Strukturen, die es ermöglichen, dass die Starken die Schwachen mit Füßen treten und ausbeuten, an zahlreichen Formen von Diskriminierung, an Hass und Gewalt zu erkennen.
Wenn wir also erkennen, dass das Thema der Kunst die Leere der materiellen Welt ist, können wir den Schmerz der Realität heilen. Ich versuche, mit meiner Kunst zum Ausdruck zu bringen, dass alle Wesen leer sind und gleichzeitig in einem Zustand der Überlagerung existieren, dass Leere Göttlichkeit ist, dass Gott Liebe ist und dass Gott in allen Wesen wohnt.
Wenn wir der Illusion entkommen, dass „mein Körper“ und „Ich“ identisch sind, können wir uns von den Obsessionen des Egos befreien, und die Menschheit kann hoffen, in einem Zustand des Zusammenklangs, in dem die Unterscheidung zwischen dem Ich und dem Du aufgehoben ist, Mitgefühl für den Anderen zu empfinden.
Wenn wir Mitgefühl für den Anderen empfinden, kann die „Krähenbrücke“ in unseren Herzen beschritten werden.
Ich respektiere deine Existenz
Von Choi Taeman, Kunstkritiker, 2023, übersetzt von Philipp Haas
Auf Kwang Lees Gemälde „Tor, das zur Mutter führt“ sind vier auseinanderstrebende Lichtpfeile zu sehen, die in den Ecken der Bildfläche in Herzformen eindringen. Das Bild kann als ein aus komplexen symbolischen Formen und einer Vielfalt von Farben bestehendes „Geschichtengemälde“ bezeichnet werden. Eine Gestalt in der Bildmitte, wo die Schafte der Lichtpfeile einander kreuzen, erinnert an die weibliche buddhistische Gottheit Hariti. Allerdings ist diese Repräsentation einer Mutter von einem Wirbel von bösen Geistern umgeben, einem furchterregenden Monster mit Schlangenschuppen und giftigen Fangblättern, das Menschen beißt und verschlingt. In einem verwirrenden Strudel bedroht jemand eine Mutter und ihr Kind mit einem langen Dolch, während einige andere Menschen in den Abgrund stürzen. Auf Stoffbändern, die wie Wimpel an den Zeitpfeilen flattern, stehen deutlich die vier Silben einer sinokoreanischen Redensart (yag-yuk-gang-shik 弱肉強食) geschrieben, die als „Der Starke frisst den Schwachen“ übersetzt werden kann, und auf den Rahmen des Bildes ist die dem Text eines koreanischen Kinderlieds entnommene Zeile „Mama, Schwester, lasst uns am Fluss leben“ eingraviert. In dem spannungsreichen Kunstwerk, zu dessen Bestandteilen die leuchtenden Farben traditionell-religiöser Gemälde, eine geheimnisvolle Bildkomposition, der die Bildfläche lückenlos ausfüllende „horror vacui“, sowie eine Reihe von Symbolen mit didaktischer Bedeutung zählen, drückt sich auch eine moralische Warnung aus. Man kann also von einer Art zeitgenössischer mythologischer Malerei sprechen. In das Sonnenrund im rechten oberen Eck der Bildfläche eingeschrieben, strahlt eine Krähe, die das Chaos um sich herum beobachtet, schützende Energie in Richtung der Mutter aus.
In den Werken von Kwang Lee kommen Sympathie und Mitgefühl, Empathie und Anteilnahme für all jene zum Ausdruck, die Opfer von Gewalt und Unterdrückung geworden sind, für die Armen, die Ausgegrenzten und die Leidenden. Das Wort „Sympathie“ leitet sich vom altgriechischen „συμπάθεια“ her, einer Zusammensetzung aus der Vorsilbe „syn-“ (dt. „gemeinsam“) und dem Nomen „Pathos“ (dt. „Gefühl“). Das Gemälde „Mutter der Armen“, das Stilelemente byzantinischer Kunst übernimmt, und die Gemälde „Schwarze Pietà“ und „Schwarzer Jesus, einem Jünger die Füße waschend“, die die Problematik von Diskriminierung und Vorurteilen aufgrund von Hautfarbe thematisieren, funktionieren alle auf der Grundlage dieser emotionalen Annäherung. Das Mitfühlen mit dem Leid anderer spielt auch im Konfuzianismus eine Rolle. Die konfuzianistische Lehre bezeichnet jene vier Gemütszustände, die unmittelbar der menschlichen Natur entspringen, als „vier Schlüssel“ (sinokoreanisch sadan四端). Deren erster, das „Mitleid“ (sinokor. cheugeunjisim 惻隱之心), entspricht der abendländischen „Sympathie“. Bei Menzius, dem Nachfolger des Konfuzius, der für die Forderung nach Einhaltung moralischer Grundsätze in der Politik bekannt ist, entsprechen diesen „vier Schlüsseln“ die „vier Kardinaltugenden“ (sinokor. inuiyeji 仁義禮智), namentlich Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Anstand und Weisheit, die auch das Fundament seiner Theorie einer dem Menschen angeborenen Güte (sinokor. seongseonseol 性善說) bilden.
Auch Mark Aurel, römischer Kaiser und stoizistischer Philosoph, maß altruistischem Fühlen und Denken als universell menschlicher Veranlagung und Grundlage aller Mitmenschlichkeit besondere Bedeutung bei. In seinen „Meditationen“ forderte er die Menschen dazu auf, den göttlichen Willen zu respektieren und sich zugleich umeinander zu kümmern. „Das Leben ist kurz. Dass es Dir eine Frucht nicht schuldig
bleibe: die heilige Gesinnung, aus der die Werke für das Wohl der Andern fließen!“, predigte er (Meditationen, 6.30). Handeln für das Gemeinwohl geschieht, wenn der Respekt vor dem Anderen ins Spiel kommt. Mark Aurel führt aus: „Bedenke stets die Verkettung aller Dinge in der Welt und ihr Verhältnis zueinander. Gewissermaßen sind sie ja alle miteinander verflochten und insofern alle untereinander verwandt“ (Meditationen, 6.38). Aus der antiken Mythologie unseres koreanischen Volkes stammend und der ganzen Welt zum Wohle gereichend, kann das von Kwang Lee in ihrer Malerei visualisierte Prinzip des Hongik Ingan (sinokor. 弘益人間) zugleich als Wurzel und praktische Umsetzung eines solchen Geistes gesehen werden.
In der Ästhetik wird eine im eingangs genannten Sinne sym-pathische oder empathische Geisteshaltung mit dem deutschen Wort „Einfühlung“ bezeichnet. Als Zusammensetzung aus der Vorsilbe „ein-“ und dem Verb „fühlen“ impliziert diese Bezeichnung den Vorgang des „Eintretens“ bzw. „Betretens“ als elementaren Teil des Konzepts. Kwang Lees Werke sind das Ergebnis des Bemühens, „den Geisteszustand, der beim Betreten eingenommen wird“ mit den Mitteln der Malerei auszudrücken. Daher verwandelt sich die Fußwaschung, die der „Schwarze Jesus“ an einem seiner Jünger vollzieht, in das „Geräusch eines Baches, der in meinem Herzen fließt“. In Kwang Lees Werken hört die Mythologie nicht beim „Es war einmal“ auf, sondern erfährt in einer eigenen ikonographischen Umsetzung, die die Widersprüche und Fesseln der heutigen Zeit offenlegt, eine Wiederbelebung. Im 21. Jahrhundert, in dem es zu allen Arten von für Mensch und Natur gleichermaßen zerstörerischer Gewalt kommt – von Krieg und Terrorismus bis hin zu psychischer Gewalt, die durch Diskriminierung und Hass verursacht wird – scheint das Licht der Sonne als letzte verbleibende Hoffnung auf eine Menschheit herab, die drauf und dran ist, sich selbst auszulöschen. Die in die Sonne eingeschriebene dreibeinige Krähe symbolisiert die ursprüngliche „Einheit von Himmel, Erde und Mensch“ (sinokorean. Cheonjiin 天地人) und verkündet so eindrucksvoll, dass die Grenzen des menschenzentrierten humanistischen Weltbildes überwunden werden müssen. Derart bringt Kwang Lee mit ihrem OEuvre letztlich eine den Anthropozentrismus transzendierende Ehrfurcht vor allen Lebewesen zum Ausdruck, in der sich die Haltung eines umfassenden „Ich respektiere deine Existenz“ artikuliert.
Moderne religiöse Malerei, die den Schmerz und die Wunden der Schwachen heilt
Von Choi Kwang Jin, Seoul, 2022, übersetzt von Philipp Haas
Vor der Moderne widmete sich die Kunst überwiegend religiösen Themen, motivisch lagen diesen Werken, die als Schmuck für Gotteshäuser oder zum Zweck der Missionierung geschaffen wurden, die Erzählungen der Heiligen Schriften zugrunde. Gnadenbilder von Heiligen, die über dem gemeinen Volk standen, folgten einer bestimmten Ikonografie, oder es handelte sich um die ästhetisierende Darstellung von Anekdoten aus ihren Leben. Aber kann mit solchen religiösen Ikonen und anekdotischen Darstellungen tatsächlich das Wesen einer Religion, das in Werten wie Liebe und Barmherzigkeit besteht, zum Ausdruck gebracht werden? Im Christentum wurde einst das sogenannte „ikonoklastische Verdikt“ erlassen, weil man befürchtete, dass solche Ikonen zu Götzenbildern werden könnten, die das Wesen der Religion entstellen.
Die Künstler der Moderne versuchten, sich von der Tradition einer im Dienst der Religion stehenden Malerei zu lösen, indem sie im Namen der Autonomie der Kunst die jeweilige soziale Realität oder die eigene Innenwelt in den Fokus ihrer Arbeit rückten. Das Werk der in Berlin lebenden und arbeitenden Künstlerin Kwang Lee zeichnet sich jedoch durch eine moderne Fortführung der Tradition der religiösen Malerei unter Rückgriff auf ein viele Jahrhunderte altes Motiv der christlichen Kunst aus: die Pietà. Insofern sie nicht im Dienst der Vermittlung christlicher Lehren steht, sondern die religiösen Gefühle der Künstlerin zum Ausdruck bringt, zeigt Lees religiöse Malerei Merkmale des Neo-Expressionismus. Bei den religiösen Gefühlen, denen das Streben der Künstlerin gilt, handelt es sich um eine ganz grundsätzliche Menschlichkeit, die in einem Zustand, in dem die Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem Anderen aufgehoben ist, Liebe und Vergebung sowie Mitgefühl mit den Schwachen ermöglicht.
Dass sie diese religiösen Gefühle zum Gegenstand ihrer Kunst machte, hängt ursächlich mit einer Reise nach Indien während ihrer Studienzeit zusammen, die sie als schicksalhaft erlebte. Als es sie auf dieser Reise einmal durch Zufall in ein Dorf verschlug, in dem bittere Armut herrschte, erlebte sie dort den Anblick von Menschen, die auf der Straße liegend verendeten, als tiefen Schock. Und während sie in Indien die historischen Wirkungsstätten hinduistischer Gottheiten und des Buddha Gautama bereiste, dachte sie tiefer über das menschliche Leiden und das Wesen von Religion nach.
Seither hegt sie ein anderes Mitgefühl für von den Herrschenden ausgebeutete schwarze Arbeiter, für Flüchtlinge, die aus der Heimat vertrieben ziellos umherirren, für sozial Benachteiligte, die unter Armut und Krankheit leiden. Dieses Mitgefühl scheint auch mit ihrer unglücklichen Familiengeschichte zu tun zu haben. Sie empfand tiefes Mitgefühl für ihre Mutter, die, ein Leben lang unter der Fuchtel ihres gewalttätigen Vaters stehend, ihren Lebensunterhalt als Fabrikarbeiterin verdiente. Durch Liebe und Vergebung gelang es der Künstlerin schließlich, sich von dem intensiven psychischen Schmerz der unglücklichen Familiengeschichte zu befreien und Seelenfrieden und Freiheit zu erlangen, was zum Gegenstand ihrer Arbeit wurde.
Dieser Hintergrund erinnert mich an den französisch-jüdischen Philosophen Emmanuel Levinas, der den Völkermord an den Juden miterlebt hatte und die Frage des leidenden „Anderen“ zum Gegenstand seiner Philosophie machte. Levinas fand im leidenden Benachteiligten das „Antlitz Gottes“ und argumentierte, Ethik beginne dort, wo das Ich in Hinwendung zum leidenden „Anderen“ transzendiert würde. So wie Levinas das Bild Gottes im Angesicht des leidenden „Anderen“ fand, läßt Lee in ihrer Pietà ausgebeutete Schwarzafrikaner die Rollen der Heiligen Jungfrau Maria und Jesu einnehmen. Hinzu kommen Gestalten aus ihrer eigenen, dem Unbewussten entsprungenen Fantasie, wie zum Beispiel sich windende Drachenschwänze oder Satyrn.
Diese Werke, in denen Schmerz und Jubel, Tod und Auferstehung, Bewusstsein und Bewusstlosigkeit koexistieren, sind wie die Wandmalereien des historischen koreanischen Königreichs Goguryeo voller menschlicher Wärme und Energie. Was die Aufmerksamkeit des Betrachters erregt, sind keine religiösen Anekdoten, sondern eine intensive Energie, die leidende und verletzte Herzen reinigt und heilt. Wie eine Schamanin in einem exorzistischen Ritual, nimmt die Künstlerin die Gewalttätigkeit und Mordgier der Gesellschaft in sich auf, um die Seele davon zu reinigen und zu heilen. Kwang Lees Werk, in dem Mechanismen zur Anwendung kommen, die dem sogenannten Salpuri verwandt sind, einem Tanz, der Traumata und den verkrusteten Schmerz lang erduldeter Unterdrückung zu lösen vermag, steht im Einklang mit der tief verwurzelten schamanistischen Tradition Koreas.
Ich streife am Davoser See umher.
Von Yushin Ra, Berlin, 2015
Das ist ein schönes Bild. Ein ruhiges und friedliches. Ein See, Bäume, Laub, Eis, Wasser, Himmel, die Schweiz und Davos. Die hellgrünen und weißen Farben scheinen zu träumen. Die Bäume, die Berge und der See zeigen sich mit ihren noch erkennbaren Silhouetten nicht ganz fremd. In dieser lyrischen und romantischen Landschaft dürfte man sich wohl entspannen. Es scheint, dass man sagen darf, ich bin hier glücklich.
Zugleich ist aber zu beobachten, dass die Dinge in dieser Landschaft ein bisschen korrodiert sind. Eine Korrosion verursacht eine Verformung und verwischt die Grenze zwischen den Gegenständen.
So werden die Bäume zum See, der See wird zum Berg. Eine Korrosion verwandelt einen Gegenstand, der uns vertraut war, in etwas Fremdes und bringt ein uns zuvor nicht bekanntes Gesicht zur Tage. In Kwang Lees Bild ist aber eine solche Korrosion nicht zu sehen. Das Verwischen der Grenzen zwischen den Gegenständen ist hier nicht solcher Art. Die hier zu beobachtende Verformung berührt uns weder unangenehm noch verwirrt sie uns. Die Korrosion der Grenzen der Gegenstände scheint hier auf den ersten Blick nur als Einladung zu dienen, uns von dem See in der Realität zu einem im Traum zu führen. Aber werden wir tatsächlich am Ende dieser Führung einen Traumsee erreichen?
Lassen Sie uns mit dieser Frage die Aufmerksamkeit auf die Punkte lenken, die große Flächen der Leinwände verschleiern und darauf zerfließen. Sie rahmen mit ihrer Menge die Landschaft ein. In den anderen Bildern Kwang Lees umfassen die Punkte mal die ganze Oberfläche, mal hebt nur ein roter Punkt seine eigene Präsenz hervor. Was sind die Punkte? Woher sind sie gekommen? Gehören sie zu der Landschaft oder sind sie Fragmente des Lichts, das auf die Leinwand der Künstlerin fällt?
In dem Moment, wo wir uns auf diese bunten Punkte konzentrieren, ereignet sich etwas Interessantes. Die Punkte verbinden sich miteinander und erzeugen dabei eine unsichtbare Scheibe zwischen dem Betrachter und der Landschaft. Diese rückt hinter diese Scheibe und das Vorderste, auf das der Zuschauer trifft, ist der Schleier der Punkte. Wir begegnen der Landschaft nicht direkt.
Was noch vor der Landschaft unmittelbar ist, ist der Schleier der Punkte. Dieser ist wirklicher.
Die Landschaft hatte bereits ihre Wirklichkeit verloren, als sie durch die partielle Grenzenlosigkeit verformt worden ist. Durch den Schleier der Punkte, wird sie noch mehr zu einem Traum. Denn ein Traum kann erst auf dem Hintergrund einer Wirklichkeit ein solcher sein. Nun noch einmal: Was sind diese Punkte, die als etwas noch Wirklicheres die Landschaft zu einem Traum machen?
Ich möchte unterstellen, dass sie ein Bewusstsein sind. Ein Bewusstsein ist immer da, aber normalerweise bleibt es im Hintergrund. Es taucht nur bei einem besonderen Anlass an die Oberfläche auf. Im Bild Kwang Lees wurde gerade ein Bewusstsein beschwört und in den Vordergrund gezogen. Es streift nun im Bild herum, als wolle es seine Existenz aufweisen.
Die Zeit, wo an ein Bewusstsein appelliert wird, dass es sich melden soll: wann geschieht das? Wann will oder soll man das Alibi seines Bewusstseins vorlegen?
Man sagt oft, dass ein Bild ein Fenster sei, das eine andere Welt erschließt. Dieses Fenster, dieses Medium wird normalerweise in Bildern ausgeblendet. Wir sehen darum nicht ein Bild, sondern einen See, ein Berg und Bäume. Die Tatsache, dass es dort eigentlich ein Bild davon gibt, nicht die Gegenstände selbst, dass sie Illusionen sind, nicht die Sachen selbst, soll an einem Bild im Hintergrund zurückbleiben.
Jene Punkte Kwang Lees scheinen als ein Anzeiger von innen zu fungieren, der entlarvt, dass die Landschaft eine Illusion ist. Die Punkte geben preis, dass das, was hinter dem Schleier der Punkte ist, kein See, sondern ein Bild ist, und dass jenes, was hier wirklich existiert, ein Bewusstsein ist, das diese Illusion beobachtet. So rückt es das Illusion-Sein des Bildes (oder das „Bild-Sein“ des Bildes) in den Hintergrund und tritt selbst als Thema auf.
Die Zeit, wenn ein Medium sich sichtbar macht, wenn es seine Existenz zu erkennen gibt: das ist auch die Zeit, in der es um die Wahrheit geht. Worauf kann sich im Bild Kwang Lees die Frage nach der Wahrheit richten? Was für eine Wahrheit wollte die Künstlerin in Frage stellen? – Hat sie vielleicht danach gefragt: Was ist das? Ist das der Davoser See oder ein Bild, eine Illusion, ein Traum?
Ich weiß, dass die die Künstlerin nicht auf diese Frage abgezielt hat. Aber es scheint mir, als habe sich die Frage nach Realität und Illusion im Schaffensprozess Geltung verschafft. Die farbigen Punkte, die auf dem Bild Kwang Lees schweben, führen uns zu dieser Thematik und appellieren an den Betrachter, Antworten zu erspüren.
Die Seebilder-Serie von Kwang Lee wurde im Rahmen ihres Projekts „Vier Elemente“ geschaffen. Wasser, Erde, Feuer und Wind gelten häufig als Repräsentanten der Natur. Aber in ihnen haben die alten Philosophen auch die elementare Wahrheit des Kosmos gesucht. Dieser Aspekt weist uns auf
die Möglichkeit hin, das Wasser Kwang Lees weniger als die alles tragende Mutter, denn als das erste Element des wirklichen Seins zu interpretieren. Kann man eingedenk dessen das Bild „der Davoser See“ auch als eine Sehnsucht nach dem wesentlichen Sein ausdeuten? Vielleicht haben Sie Lust, beim Betrachten der Bilder dieser Frage nachzugehen!
Über Kwang Lees Wassermalerei
Von Barbara Birg-Rahmann, Zürich, 2012
Kwang Lees Bilder werden lebendig zwischen Tag und Nacht.
Das schwindende Tageslicht verschleiert die Farben und lässt Formen verschwimmen. Es bemüht unser Sehen, bis die Dunkelheit endgültig obsiegt. Die Abbilder der Wirklichkeit werden von der Nacht eingehüllt und für unsere Augen unsichtbar. Trotzdem bleiben sie präsent.
In Kwang Lees Gemälden erstrahlen die Berliner Seen und Davoser Landschaften unter dem tiefblauen Sternenhimmel in einem geheimnisvollen Licht. Es ist weder ein beobachtetes Licht, wie das Studienobjekt der Impressionisten, noch ein inszeniertes Licht. Die Dinge scheinen aus sich selbst heraus zu leuchten. Ihr ureigenes Wesen erstrahlt, welches uns zugleich vertraut und fremd ist. Es ist ein gespürtes Licht, das Kwang Lee zum Ausdruck bringt. Die Dunkelheit raubt ihr den wichtigsten Sinn des Malers und stärkt ihr Empfinden für das verborgene Wesen der Dinge.
Auf den glatten Spiegeln der Seen stellt die Künstlerin dieses Leuchten in den Dialog mit sich selbst. Die Wasseroberflächen bilden die Leinwände der Natur. Auf ihnen beobachten wir gebannt die uns umgebende Wirklichkeit. Durch die Brechung des Lichts erscheint sie uns neu, in ungewohnter Proportion. Die Bewegung des Wassers lässt das Statische zerfließen. Kwang Lees Bildkompositionen lenken den Blick des Betrachters immer wieder zu den stillen und doch bewegten Spiegeln zurück. Sie bilden das Gefäß für den eigentlichen Kern ihrer Werke: das Wasser.
„Das höchste Gut gleicht dem Wasser.
Des Wassers Gutsein: Es nützt den zehntausend Wesen,
aber macht ihnen nichts streitig; “ 1
Ihre Spiegelungen bauen keine Spannungen auf. Sie leben in der Ruhe der Gewissheit, Wahrheit in sich zu tragen. Die Gefäße der Seen sind bis zum satten Rand mit Wasser gefüllt. Dieses Element schenkt dem umgebenden Dasein seine Existenz. Seine Kraft ist durch das enge Zusammenspiel der Farben und durch die kompositorische Verbindung der Reflexion mit seiner Umwelt zu spüren.
In Kwang Lee’s Schöpfungen vereinigen sich virtuos das Gedankengut der asiatischen Philosophie mit der Maltradition westlicher Schule. In der Kunstakademie Düsseldorf zur rigorosen malerischen Analyse erzogen, wendet sie sich doch in ihrer gedanklichen Verortung immer zum Vereinenden hin. Die Akzeptanz der „Ungegenständlichkeit“ als Ausdruck des „rein Geistigen“, des Transzendenten mussten sich Wassily Kandinsky und seine Mitstreiter hart erkämpfen. Und wie sehr ist diese Assoziation mit der Denkweise unserer westlichen Welt eins geworden. Die asiatische Malerei musste nie den Weg der Entfernung von der Dinglichkeit gehen. So muss es auch Kwang Lee nicht.
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1 Lao-tse, Tao-Tê-King, Das heilige Buch vom Weg und von der Tugend.
Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Günther Debon. Stuttgart 2012, Kapitel
8, Seite 14.
Temperamentvolle Bilder voller Symbolen der Vergänglichkeit
Von Meike Nordmeyer, Wuppertal, 2009
Wuppertal. Die Künstlerin Mua Kwang Lee bewegt sich mit ihren Bildern auf der Grenze zwischen gegenständlicher Malerei und Abstraktion. Sie neigt mal mehr zur einen, mal mehr zu anderen Seite und bringt beide spannungsreich zusammen. Die junge Koreanerin und Wahlberlinerin studierte an der Kunstakademie in Düsseldorf und wurde Meisterschülerin von Markus Lüpertz. Die Galerie Janzen im Kolkmannhaus zeigt jetzt ihre Malerei und Arbeiten auf Papier.
„Lassen Sie sich von den süffigen Farben nicht täuschen“, sagt Galeristin Martina Janzen bei der Vernissage. Denn in den temperamentvollen, so frisch daher kommenden Arbeiten geht es um existentielle Fragen, um Tod, Schmerz, Angst und Leiden. So sind auf den drei Landschaftsbildern, die einen herbstlichen Wald zeigen, ein Totenschädel zu sehen und ein Affe, der auf einem am Boden liegenden Baumstamm hockt. Auf einem anderen Gemälde sitzt ein Skelett auf einem Holzstuhl. Kerzen und Spiegel als weitere Symbole der Vergänglichkeit finden sich.
Mehrfach lassen sich auch Vögel erkennen oder ihre Umrisse erahnen. Sie stehen für die Freiheit und gerade auch für die verhinderte, gestutzte Entfaltungsmöglichkeit. Verbunden werden sie oftmals auch mit Unglück und Ängsten. Vor allem auch der Affe ist ein wichtiges Symbol für die Künstlerin, gerade wegen seiner Vieldeutigkeit. So steht er in der westlichen Kunstgeschichte für Geiz, Lüsternheit und Bosheit. In Asien deutet er hingegen auf Weisheit hin und gilt als ein Schutzgott gegen das Böse.
Hintergründige Bilder sind es und voller Energie. Die üppige Farbigkeit erzielt die Künstlerin mit Eitempera, Öl und Farbpigmenten. Diese Mischung trägt sie mit dynamischem Pinselstrich in gestischer Malweise auf, teilweise wischt sie auch über die Farbe, viele Schichten entstehen. Auch die Tropfbahnen, die sich bilden, gehören dazu, denn den Entstehungsprozess will die Malerin bewusst in die Bildsprache einbeziehen.
Blickfang der Ausstellung ist das aus drei Leinwänden zusammengesetzte großformatige Gemälde „Sternennacht im Fischtal“ von 2009. Diese nächtliche Seenlandschaft mit feiner Stimmung und Lichtreflexen erweist seine Reverenz zur Monet-Ausstellung im Von der Heydt-Museum und zeigt eine selbstbewusste eigene Handschrift.
Ersehntes Licht
Von Barbara Birg-Rahmann, Zürich, 2008
Ein Gesicht nimmt uns mit seinem gewaltsamen Anblick gefangen. Explosionsartig breiten sich hautfarbene Körperteile im Bild aus, umhüllt von grauen Nebelschwaden des entweichenden Lebensgeistes. Der Tod ist ihr ins Gesicht geschrieben. Trost suchend möchte man sich abwenden. Doch wird man gefangen genommen von diesem Auge. Klar und ruhig blickt es uns an, scheinbar unberührt von der es umgebenden eigenen Auflösung. In ihm glänzt Gottes Geschenk: das Leben.
Diese Gesicht einer alten Frau mit dem rätselhaften Titel „Null Vier Uhr. Alles fließt. Ich bin gesperrt.“ stellt Kwang Lee in den Mittelpunkt ihrer Ausstellung „Ersehntes Licht“. Es zeigt das Sinnieren über die eigene Sterblichkeit, die Angst vor dem Leiden, dem Tod. Diese Angst beschloss Kwang Lee bereits mit der Aufnahme an der Kunstakademie in Düsseldorf im Jahr 2000 ins Zentrum ihres künstlerischen Schaffens zu stellen. Ihre künstlerische Ausbildung in Korea thematisierte die Schönheit der Leere, das Streben nach Einheit, Harmonie und Gleichgewicht. Als Meisterschülerin von Prof. Markus Lüpertz erlernte sie die Erscheinung unserer inneren und äußeren Welten zu dekonstruieren und ihre Elemente neu zu komponieren. Figuration und vollkommene Abstraktion stehen in ihrem künstlerischen Schaffen dabei im Einklang. Oft gibt die Figuration das Thema vor, das in der Abstraktion fortgeführt wird. Dabei sichert die Stilsicherheit der einen die Qualität der anderen. Es entspricht der Arbeitsweise Lees jede Arbeitstechnik bis zur letzten Konsequenz zu erlernen. Ihre Werke sind einmalige Schöpfungen. Sie entstehen aus einem Guss. Korrekturen gibt es nicht. Sie lesen sich wie ein Leben, das nur einmal gelebt werden kann, in dem trotz aller Verbundenheit mit der Vergänglichkeit der Lebenswille ungebrochen ist. Die Hoffnungslosigkeit, festgehalten im Bildnis des alten Mannes nach Vincent van Gogh, wird im nächsten Moment aus der Erstarrung gelöst. Lees abstrakte Werke werfen sie gleichsam in den Diskurs mit dem Leben und führen sie damit wieder in ein heilsames Gleichgewicht, das Gleichgewicht des „Ersehnten Lichts“.